Das Jahr 2023 war nach 2022 für die Gletscher wieder katastrophal: Nach rund 6% Volumenverlust 2022 beträgt dieser 2023 rund 4%. Dies ist der zweitstärkste Rückgang seit Messbeginn. Damit ging in den letzten zwei Jahren soviel Eis verloren, wie insgesamt in den drei Jahrzehnten von 1960 bis 1990. Die Gründe lagen in erster Linie in den jeweils sehr warmen Schmelzperioden sowie den niederschlagsarmen und damit schneearmen Wintern. Dazu einige Zahlen zur Verdeutlichung.
Weiter stark abschmelzende Gletscher
Gemäss der Schweizerischen Kommission für Kryosphärenbeobachtung der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz, welche in engem Kontakt mit dem von der ETH sowie den Universitäten Freiburg und Zürich betriebenen Schweizerischen Gletschermessnetz (GLAMOS – Glacier Monitoring in Switzerland, dokumentiert und beobachtet systematisch die langfristigen Gletscherveränderungen in den Schweizer Alpen) steht, verloren die Schweizer Gletscher nach rund 6 Prozent im letzten Jahr etwa 4 Prozent an Volumen in diesem Jahr. Dies ist der zweitstärkste Rückgang seit Messbeginn. Damit ging in den letzten zwei Jahren soviel Eis verloren, wie insgesamt in den drei Jahrzehnten von 1960 bis 1990. Die beiden Extremjahre in Folge führten unter anderem zum Zerfall der Gletscherzungen und dem Verschwinden von einigen kleinen Gletschern. So mussten in diesem Jahr etwa die Messungen beim St. Annafirn im Kanton Uri eingestellt werden. Dasselbe war 2021 auch beim Pizolgletscher geschehen, der bereits 2019 medienwirksam beerdigt wurde (vgl. Abb. 1).
Abb. 1: Pizolgletscher 2019: Nur noch teilweise von Schutt und Geröll bedeckte Toteisreste; Quelle: Roger Perret
Nachfolgend sollen die Gründe für den rasanten Rückgang der Schweizer Gletscher in den letzten beiden Jahren erläutert werden.
Weit überdurchschnittliche Temperaturen während der Schmelzzeit
Die Schmelzzeit oder Ablationszeit der Gletscher dauert etwa von Mai/Juni bis September/Oktober, während dieser Zeit sind die Temperaturen für das Ausmass der Gletscherschmelze entscheidend. Der diesjährige Sommer (Juni bis August) war dabei wie der letztjährige deutlich zu warm (2023 1.7. Grad, 2022 sogar 2.3 Grad, vgl. Abb. 2 und 3). Damit war dieses Jahr der fünftwärmste und letztes Jahr der zweitwärmste Sommer seit Messbeginn 1864.
Abb. 2: Temperaturabweichung Sommer 2023 im Vergleich zum langjährigen Mittel 1991-2020; Quelle: MeteoNews, UBIMET
Abb. 3: Temperaturabweichung Sommer 2022 im Vergleich zum langjährigen Mittel 1991-2020; Quelle: MeteoNews, UBIMET
Die überdurchschnittlichen Temperaturen gingen danach auch mit Ausnahme des letzten Septembers im September und Oktober weiter, 2023 war der wärmste je gemessene September und 2022 der wärmste je gemessene Oktober, dem der diesjährige Oktober folgt. Nur der letztjährige September fällt aus der Reihe, dieser war sogar leicht unterdurchschnittlich. Vor allem in diesem Jahr dauerte es so im Herbst sehr lange, bis sich Schnee über die Gletscher legte und damit die Eisschmelze gestoppt wurde. Zudem war die Nullgradgrenze bis weit in den Oktober sehr hoch und erreichte im September sogar neue Rekordhöhen von über 5000 Metern (Maximum 5253 Meter am 4. September).
Vor allem 2021/2022 extrem schneearmer Winter
Der Winter 2021/2022 und das Frühjahr 2022 (vgl. Abb. 4) waren deutlich zu trocken und damit auf den Bergen schneearm.
Abb. 4: Niederschlagsabweichung Frühling 2022 im Vergleich zum langjährigen Mittel 1991-2020; Quelle: MeteoNews, UBIMET
Daraus resultierte 2022 ein rekordfrühes Ausapern auf den Bergen (vgl. Abb. 4) und damit auch der Gletscher, sodass die Schmelzphase sehr früh begann.
Abb. 5: Rekordfrühe Ausaperung 2022 auf dem Weissfluhjoch; Quelle: DWD, MeteoSchweiz, ZAMG, 2022; Alpenklima Sommerbulletin 2022: Klimazustand in den Zentral- und Ostalpen.
Dazu kam, dass es vor allem Mitte März mehrere teils intensive Saharastaubereignisse gab. Der Staub setzte sich auf dem Schnee ab und machte ihn besonders schmutzig. Der dunkle Staub verringerte dabei das Reflexionsvermögen (Albedo) des Schnees und erhöhte im Gegenzug die Absorption der Sonnenenergie. Dadurch wurde der Schmelzprozess deutlich beschleunigt.
In diesem Jahr war dann der Winter zu trocken, das Frühjahr hingegen nicht (vgl. Abb. 5 und 6).
Abb. 6: Niederschlagsabweichung Winter 2023 im Vergleich zum langjährigen Mittel 1991-2020; Quelle: MeteoNews, UBIMET
Abb. 7: Niederschlagsabweichung Frühling 2023 im Vergleich zum langjährigen Mittel 1991-2020; Quelle: MeteoNews, UBIMET
Ende Frühjahr lag somit viel mehr Schnee auf den Gletschern als letztes Jahr, die Schmelzphase begann so später, wodurch es zunächst für die Gletscher gar nicht so schlecht ausgesehen hat. Was dann aber wie oben erwähnt folgte, war ein deutlich überdurchschnittlich temperierter Sommer und früher Herbst, der die gute Ausgangslage wieder zunichtemachte. Schlecht war dabei insbesondere der viel zu warme Juni mit langen Trockenphasen. Dazu kam, dass nach dem extremen Abschmelzen im letzten Jahr und damit dem hervortretenden blanken Eis bis in grosse Höhen nach dem heurigen Abschmelzen sofort wieder das alte Eis und nicht der letztjährige Firn zum Vorschein kam, was die starke Schmelze weiter förderte. Ein Stück weit war also das diesjährige starke Abschmelzen auch eine Folge des letztjährigen Rekordjahres.
Zum Schluss noch zwei Vergleichsbilder 2019 und 2023 beim Morteratschgletscher, deren Zunge der schreibende Meteorologe nunmehr seit mehr als 10 Jahren jährlich im Herbst besucht. Man erkennt dabei in den letzten 4 Jahren zwar kaum eine grosse Änderung der Lage der Gletscherzunge, dafür aber einen markanten Rückgang der Gletscherdicke sowie vermehrte Schmelzkrater an der Gletscherzunge (vgl. Abb. 8 und 9).
Abb. 8: Zunge des Morteratschgletschers im Herbst 2019; Quelle: Roger Perret
Abb. 9: Zunge des Morteratschgletschers im diesjährigen Herbst; Quelle: Roger Perret
Der besorgniserregende Rückgang der Schweizer Gletscher in den letzten beiden Jahren gibt Anlass zur Sorge. Einer der in der Schweiz führenden Gletscherforscher und Leiter des Schweizer Gletschermessnetzes GLAMOS, Dr. Matthias Huss formuliert es so: "Ich hoffe, dass man realisiert, wie weit fortgeschritten die Klimakrise schon ist. Die Gletscher sind ja nur eine Auswirkung, aber sie machen die sehr starke Erwärmung sehr greifbar und sichtbar."