Wenn Schneeflocken vom Himmel rieseln, freuen sich Kinder und Wintersportler. Bei Autofahrern ist der Schnee in der Regel weniger beliebt. Schnee verwandelt die Landschaft und wirkt friedlich, doch hat es diese Niederschlagsform faustdick hinter den Ohren. Schneekristalle sind die Basis, und jeder einzelne ist ein Unikat.
Schnee - komplexer, als man denkt
Schneeflocken sind ein Verbund aus mehreren Eiskristallen. Diese wiederum entstehen in Wolken bei entsprechend tiefen Temperaturen. Ist es extrem kalt, etwa im Bereich um -40 Grad, kann unterkühltes und bis dahin noch flüssiges Wasser spontan zu einem Eispartikel gefrieren. Dabei handelt es sich aber um einen Spezialfall, in der Regel sind die Temperaturen höher. Dann lagern sich Wassermoleküle an feinste Verunreinigungen an, sogenannte Kondensationskeime. Liegen die Temperaturen typischerweise zwischen -4 und -20 Grad, beginnen Eiskristalle zu wachsen. Das Wassermolekül besteht bekanntermassen aus einem Sauerstoff- und zwei Wasserstoffatomen, diese stehen in einem gewissen Winkel zueinander. Durch diese Struktur wird es zu einem Dipol, das heisst, die Ladungen sind unterschiedlich verteilt.
Abb. 1: Modell des Wassermoleküls mit der Verteilung der Ladungen (negativ beim Sauerstoffatom, positiv bei den beiden Wasserstoffatomen); Quelle: Wiktionary
Ohne zu tief in die Chemie und Physik des Wassers einzutauchen, der Schneekristall beginnt ab dann zu wachsen. Immer mehr Wassermoleküle lagern sich an den Kristall an. Dies geschieht nach einem gewissen Muster (nämlich "dentritisch"). Das bedeutet, dass so ein Schneekristall nicht gleichmässig anwächst. Es bilden sich Spitzen, Ecken und Flächen. Diese Strukturen beeinflussen den weiteren Verlauf des Wachstums, denn an Spitzen und Kanten lagern sich mehr Wassermoleküle an, als beispielsweise an Flächen. Durch die Eigenschaften des Wassermoleküls entsteht ein Kristallgitter, in dem nur 60° und 120° Winkel existieren. Dadurch erhält ein Schneekristall seine typische sechseckige Form, es handelt sich um hexagonale Plättchen oder Säulen. Die genaue Gestalt und Kombination dieser Grundformen variiert stark - je nach Temperatur- und Feuchtigkeitsverhältnissen. Die klassischen Schneesterne entstehen typischerweise bei Temperaturen nur knapp unter dem Gefrierpunkt. Beim Fallen können sie sich mit anderen Kristallen verhaken und so Schneeflocken bilden. Bei Temperaturen über 0 Grad wirkt flüssiges Wasser zusätzlich als eine Art Klebstoff, die Flocken werden dann am grössten. Wird es dagegen immer kälter, werden die Formen tendenziell einfacher, es bilden sich mehr Nadeln und Plättchen ohne weitere Verästelungen. Sehr kalte Luft kann nicht mehr allzu viel Wasserdampf aufnehmen oder halten, es steht also auch weniger "Baumaterial" zur Verfügung. Bei starkem Frost können auch aus scheinbar fast klarer Luft Schneekristalle rieseln und in der Sonne glitzern.
Keiner wie der andere!
Heute und in den kommenden Tagen ist es kalt genug für Schnee, und auch kalt genug für schöne Schneekristalle. Es bietet sich also die Möglichkeit, sich die feinen Strukturen einmal genauer anzusehen. Am besten geschieht dies auf einer dunkleren Oberfläche und mit einer Lupe, auch die modernen Handykameras können hier gute Dienste leisten. Der amerikanische Farmer Wilson Bentley (1865-1931) erfand schon früh eine Methode, Schneekristalle zu fotografieren. Ab 1885 fotografierte und katalogisierte er über 5000 Kristalle, und jeder war einzigartig.
Abb. 2: Beispiel für unterschiedliche Schneekristalle; Quelle: Wikipedia
Tatsächlich ist es so, dass es praktisch ausgeschlossen ist, dass seit es auf der Erde schneit (also schon ziemlich lange), jemals zwei identischen Schneekristalle gefallen sind. Sie mögen sich ähneln, aber im Detail gibt es immer Unterschiede. Dies liegt an der grossen Menge an Freiheitsgraden (Temperatur, Feuchtigkeit, verschiedene Isotope der Sauerstoff- und Wasserstoffatome) und Kombinationsmöglichkeiten der einzelnen Wassermoleküle. Die Anzahl der möglichen Variationen übersteigt bei Weitem die Anzahl der Elementarteilchen im beobachtbaren Universum! Angesichts dieser riesigen Zahl kann man natürlich in Erfurcht erstarren, man kann sich aber auch einfach an der Schönheit und Einzigartigkeit eines Schneekristalls erfreuen. Jeder ist ein vergängliches Unikat!